Selbst bei strahlendem Sonnenlicht draußen ist der Großtempel der Todesgöttin Mordophane düster und bedrohlich. Ein leichter Verwesungsgeruch schwängert die Luft, stärker werdend, wenn ich an den untoten Wächtern vorbeikomme. Obwohl ich weiß, dass sie mir nichts tun, macht mir allein ihre Anwesenheit in so großer Zahl eine Gänsehaut. Neben Menschen in verschiedenen Verwesungsstadien bilden die animierten Skelette die Mehrzahl der Diener im Tempel.
Endlich kommt mir Ardiana in ihrer schwarzen Robe entgegen. Ich hatte mich vor einer Woche mit der Priesterin verabredet, um bei der Führung auch in die Nähe des Necrocanons zu kommen, der in einem Seitenschiff gut bewacht wird. Doch dazu später mehr.
Ardiana erzählt vom Bau des Großtempels vor über 800 Jahren durch den Architekten Dschian Shushi, einem Vampir aus dem Ostreich, der leider einem Anschlag der Gegner von Untoten in der Stadt Magnora zum Opfer gefallen ist.
Die hohen, spitz zulaufenden Säulen sind Drachenrippenknochen nachempfunden. Der Hauptaltar steht in einer Art Totenschädelkammer im Bereich des Stammhirns. Die Sitzbänke wurden aus den Knochen der Anhänger Mordophanes gefertigt, sodass deren Besitzer ihrer Göttin immer noch dienen können.
Alle Kerzen und das Öl der Lampen werden von Akolythen aus dem Körperfett frisch Verstorbener hergestellt. Alle paar Meter teilt ein Totenschädel die Sitzreihen in Gruppen von Acht. Das ist die heilige Zahl Mordophanes. An der rechten Wand kommen wir jetzt an einer Unmenge von aufrecht stehenden Sarkophagen vorbei, die von reicheren Familien für ihrer Hinterbliebenen gespendet worden sind.
Auch die Silberbergs, meine Sippe, hat hier eine Urgroßtante stehen. Ich bin mir nicht sicher, ob in ihnen nicht die andere Schicht der Wächter ruht, doch Ardiana lacht amüsiert über meine Vermutung.
„Nein, die Untoten brauchen keine Pause oder Ruhe. Es sind immer dieselben Wächter. In den Sarkophagen ist allerdings die Verstärkung für besondere Anlässe oder Notfälle.“
Endlich gehen wir in das linke Seitenschiff. Spannung steigt in mir auf – das verfluchte Buch, das letzte bekannte Exemplar des Necrocanons …
Zwei Litsche schauen mich mit ihren glühenden Augen an und ich senke rasch den Blick, dabei näher an Ardiana rückend. Diese Untoten waren zu ihren Lebzeiten mächtige Magier, die ein Weiterleben als noch mächtigere Untote gewählt haben. Eine Reihe Zombies bilden zu je Acht ein Spalier, durch das wir uns einer leicht erhöhten Plattform nähern.
Da liegt das geschlossene Buch, der Canon aller Zaubersprüche der Nekromantie. Eine eklig-saugende Anziehung geht von dem großen Buch aus und ich bilde mir ein, Lebensenergie zu verlieren, je näher ich dem Buch komme.
„Halt, nicht weiter!“, Ardiana bringt mich mit ihrem Ruf wieder zur Besinnung.
„Näher ist zu gefährlich – das Buch hat seelensaugende Eigenschaften, wenn man nicht abgrundtief böse ist.“
„Wie konnte der verrückte Alchemist Ewandor nur dieses Buch erschaffen?“
Meine Frage kommt stockend und neugierig zugleich.
Die Priesterin legt ihre Stirn in Falten und antwortet leise und gefasst: „Er hat Halbgott-gleiche Macht errungen durch die Energie aus dem Totenreich. Obwohl er sich immer auf Mordophane berufen hat, glaubt hier niemand, dass sie sein Treiben gebilligt hat. Eingegriffen hat sie aber auch nicht.“
„Trotz der Todeskriege beziehungsweise Nekromantenkriege mit Millionen von Toten?“, entfährt es mir erstaunt.
„Die Wege der Herrin sind unaussprechlich und unvorhersehbar …“, kam es ergeben von Ardiana.
„Stimmt es, dass die Seiten des Buches auf Elbenhaut geschrieben sind?“
„Nicht nur: wir haben festgestellt, dass alle linken Seiten aus Dämonenhaut und alle rechten Seiten aus Elbenhaut sind. Vergesst nicht, dass Alchemisten auch eine Laufbahn als Beschwörer durchlaufen haben müssen.“
Da lag es vor mir, das verfluchte Buch. Es hat Millionen das Leben gekostet und doch wurde dieses Buch noch immer nicht vernichtet – weil es eine Widmung an Mordophane auf der Innenseite des Buchdeckels hat. Nur dieses Exemplar. Und genau dieses hatte man bei Ewandor nach seiner Vernichtung gefunden.
„Lasst uns weggehen von dem Buch!“, drängt auf einmal die Priesterin und ich merke, wie ich mit jedem Schritt Abstand leichter atmen kann.
Wir kommen auf dem Weg zum Ausgang an der Kollekte vorbei und ich werfe ein paar Goldstücke hinein, um mir das Wohlwollen Mordophanes zu sichern.
Zwei Skelette öffnen uns die riesigen Torflügel und ich verlasse den Tempel über die 8 mal 8 Stufen.
In der Friedhofsstraße angekommen nimmt so langsam die Beklemmung ab und ich werfe noch einmal einen letzten Blick auf den imposanten Tempel.
Wie viele Räume, Katakomben und Stätten habe ich heute nicht sehen dürfen?
Und darf darüber überhaupt berichtet werden …