Unsere Mitarbeiterin Oselle beschreibt in diesem kurzen Bericht ihre Astralreise zu den Blaubergen mit dem Meisterpsioniker Keselow.
Es ist die zweite Stunde nach Mittag, als ich nervös an der Tür des Meisterpsioniker Keselow klopfe. Eine drückende Hitze lastet über Magnora. Schwitze ich von den heftigen Bewegungen des Zufächelns oder der Hitze an sich – oder ist mir mulmig vor meiner bevorstehenden Reise? Ich weiß es nicht. Bevor sich meine Gedanken im Kreis verlieren, öffnet ein schneeweißer Diener mit roten Augen die Tür und lässt mich ein. Selten sieht man die Albinos aus dem nordwestlichen Ostreich bei uns. Welches Geschick ihn wohl aus den Ausläufern des Riesengebirges geführt hat?
Er führt mich durch angenehm kühle Gänge mit weißen Stuckdecken in einen fensterlosen Raum, der ganz mit schwarzen Teppichen, Vorhängen und Gobelins ausgekleidet ist.
Dort empfängt mich Meister Keselow. Er ist ein sehniger Mann von Ende 40, der mit seinem Diener an Hautblässe fast mithalten kann. Natürlich ist er ganz in Schwarz gekleidet, wie es oft bei Psionikern zu sehen ist. Sein bartloses Gesicht lächelt mich höflich mit ernsten Augen an.
Ob ich mir ganz sicher sei, diese Astralreise zu unternehmen – ja, das bin ich.
Ob ich nicht noch etwas zu jung für eine solche Erfahrung wäre – nein, in meiner weitläufigeren Familie gibt es einige Zauberkundige, die mir schon Einiges berichtet haben.
Schließlich zuckt er die Achseln und er bittet mich, es mir auf dem schwarzen Sofa bequem zu machen und die Augen zu schließen.
Noch einmal klärt er mich über das Vorgehen in der geführten Reise auf:
Dass ich ihm gegenüber keinen Widerstand leiste, wenn er in meinen Geist eintritt,
Dass ich nicht erschrecken soll, wenn ich plötzlich meinen Körper leblos unter mir liegen sehe.
…
Die Theorie beginnt mich zu langweilen und ich muss mich konzentrieren, die vorgeschriebenen Fragen von der Magiergilde zu beantworten.
Schließlich geht es los.
Während ich die Augen schließe und zwei, drei tiefe Atemzüge nehme, bemerke ich, wie Meister Keselow vorsichtig in meinen Geist eintritt.
Ein Gefühl von Panik macht sich bei mir breit, doch einige besänftigende Gedanken des Psionikers beruhigen mich allmählich.
Und plötzlich schwebe ich über mir und schaue auf meine verlassenen Körper herunter. Meister Keselow hat mich an meiner Geisteshand fest gepackt. Sein Griff gibt mir Sicherheit, denn ich bewege mich wabernd unsicher, schwebe hierhin und dorthin wie eine Wasserpflanze in der Strömung eines Flusses.
In der Astralwelt gibt es keine echten Distanzen. Alles ist wie nebeneinander in einer mehrdimensionalen Kette aufgereiht.
Meister Keselow zieht mich im Bruchteil einer Sekunde in eine Wolke aus Farben.
Schillernd breitet sich vor mir ein Spektrum von Farben aus, das der Traum jeden Färbers im Viertel der Tuchmacher gewesen wäre. Da waren Abstufungen von Orange, die so zart waren, dass ich mich schon eingehüllt in einem wunderschönen, fließenden Kleid sah. Da gab es Rottöne, die ich noch nie gesehen hatte und mir gleichzeitig warm und wohlig vorkamen. Meister Keselow las es in meinen Gedanken und erklärte mir, dass die Psioniker es Infrarot nannten. Er machte mich auch auf blauviolette Farbtöne aufmerksam, die eine gewisse Kälte ausstrahlten, aber mich gleichzeitig an einen klaren Sonnentag erinnerten. Das sei Ultraviolett in der Fachsprache der Psioniker.
Wie mir wohl ein ultravioletter Schal stehen würde?
Meister Keselow lacht leicht amüsiert in meinem Kopf.
Dazu müsste ich die Fähigkeit haben, außerhalb der astralen Welt ultraviolett zu sehen.
Jetzt ging es weiter.
Innerhalb eines Momentes sind wir in einem Gebirge aus blauen Bergen und Tälern.
Wenn alles um einen herum Blau ist, muss man sich erst ‚einsehen‘, um etwas richtig wahrnehmen zu können. Es dauerte etwas, bis ich neben groben Strukturen wie Bergen und Tälern auch Kristallpflanzen und Wesenheiten erkannte.
Astralreisen ist nicht ungefährlich. Besonders Spektoren sind eine tödliche Gefahr in allen Winkeln der Astralebene. Sie sind reine Energiewesen und ernähren sich von der Lebensenergie ihrer Opfer, die sie aussaugen. Meist schleichen sie sich heran und krallen sich am Astralkörper fest und lassen nicht eher los, bis alle Lebensenergie aus dem Opfer abgesaugt ist.
Deshalb war ich sehr froh, dass Meister Keselow bei mir war. Psioniker konnten Spektoren die Stirn bieten und ihnen erheblich schaden. Letztendlich suchte sich der Spektor dann lieber leichtere Beute, als sich auf einen langen Psi-Schlagabtausch einzulassen.
Unwillkürlich suchten meine geistigen Augen im Blau nach diesen Monstern.
Meister Keselow beruhigte mich jedoch schnell. Er nehme gerade keine anderen Präsenzen in der Nähe war, außer den Kieselameisen links vor uns.
Da sah ich sie auch – die handtellergroßen, oktaedrischen Körper der marineblauen Kieselameisen.
Fleißig schleppten sie kleine blaue Steinchen in Höhlen und Spalten des Berges vor uns.
Es war faszinierend zu sehen, wie ihre Körper schillernde Blautöne aussandten, die um Marineblau variierten. So zeigte sich ihre Lebenskraft auf der Astralebene.
Ich weiß nicht, wie lange ich ihr Treiben beobachtete, alles in mich einsog, einfach nur dastand und eine Erfahrung ganz in Blau machte: die Berge, die Felsen, die Kristallblumen, die Kieselameisen, der knirschende, dunkelblaue Sand …
Schließlich nahm mich Meister Keselow wieder an der Hand und ich erwachte plötzlich im schwarzen Zimmer in Magnora.
Schon wollte ich protestieren, als ich merkte, wie ausgedörrt meine Kehle war und wie mein Magen vor Hunger knurrte: wir hatten fast 10 Stunden in den blauen Bergen verbracht. Es war schon kurz nach Mitternacht.
Ich verabschiedete mich dankbar und ließ mich von einer Sänfte nach Hause tragen – immer noch den Erfahrungen nachspürend, die ich außerhalb meines Körpers gemacht hatte.
Ich werde diese wundervolle Erfahrung nie vergessen.
Als ich am nächsten Tag durch das Viertel der Weber, Tuchmacher und Färber ging, kam mir die Welt so wenig bunt vor und ich hatte das Gefühl, nur einen Bruchteil der wahren Farben vor mir zu haben – vor allem, wenn es etwas Blaues war …