Von unserer Korrespondentin im Westreich, Amirantella Silberberg

Wer sich über den riesigen Mondsee auf dem Schiff Lunata und dem Großtempel von Crossos nähert, verfällt irgendwann in ehrfürchtiges Staunen. Ein riesiger schwarzer Berg scheint in der Nähe des Hafens sämtliches Licht zu verschlucken. 250 m hochragt die zwiebelförmige Kuppel in den Himmel und man kann schon von Weitem die halb eingestürzte Nordseite der Kuppel ausmachen.

Dass die Kuppel immer noch steht, ist Magie und dem genialen Zwergenbaumeister Hugli und der Elbenarchitektin Seraphiona zu verdanken. Der quadratische Grundriss misst an den Seiten 400 m und hatte ursprünglich 120 tragende und 240 Ziersäulen.

Alles ist aus vulkanischem, schwarzen Basalt aus dem Riesengebirge erbaut worden. 50.000 Gläubige haben zu den Hochfesten des Crossos, „Sieg über die Alten Götter“ und „Tag der Zerstörung“, Platz im weitläufigen Tempelinneren.

Warum sprach ich gerade von ‚ursprünglich 120 tragende und 240 Ziersäulen‘?

Weil, wenn man das Innere des Tempels betritt, in der Nordseite viele Säulen umgestürzt und Mauerteile verstreut sind.

Hat hier ein schweres Erdbeben stattgefunden?

Mein Tempelführer, der Crossos-Priester Elchisedes, verzieht den Mund zu einem Grinsen.

Dann erzählt er mir, während wir auf einen Brunnen am Anfang des zerstörten Teils zusteuern, das Geheimnis des gegenwärtigen Zustands.

Als vor über 600 Jahren Hugli und Seraphiona mithilfe von 3.000 Sklaven, 350 Steinmetzen und 200 andern Spezialisten den Tempel fertiggestellt hatten, sandte Crossos seinem Hohepriester eine Vision. Er sollte allein in den gerade fertiggestellten Großtempel gehen und Crossos einen Ochsen opfern.

Der Hohepriester Alchorios tat, wie ihm geheißen und während er so im Gebet versunken war, fuhr Crossos in den Hohepriester und ließ in wachsen und wachsen, bis er ein Riese von 20 m war.

Dann packte er eine Ziersäule und wütete drei Stunden im Nordtrakt des Tempels. Er zerstörte Säulen, Altäre, Alkoven, Sitzbänke und Statuen. Als letzten Akt packte er eine Säule und schleuderte sie wie einen Speer aus dem Dach heraus bis in den Mondsee (die Stelle im See ist heute ein Wallfahrtsort vor allem für Fischer und Seeleute).

Dann ließ Crossos den Hohepriester zurück in seine eigene Gestalt schrumpfen und löste sich von ihm. Nicht jedoch, ohne ihm eine Vision zu hinterlassen, wie in die umgestürzten Säulen und Mauerreste Sitzbänke eingehauen werden sollten und den ganzen Ort als Mahnmal der ‚heiligen Zerstörung‘ festzuschreiben.

Als Hugli später das Ausmaß der Zerstörung sah, setzte er sich an den Rand des Trümmerfeldes und weinte sieben Tage und Nächte. In der siebten Nacht erschien dem trauernden Zwerg Crossos.

„Weine nicht mehr, Hugli. Es ist alles gut so, wie es ist. Ich danke dir für dieses Meisterwerk“, soll er gesagt haben.

Dann ließ er eine Salzwasserquelle an dem Ort entstehen, an dem Hugli so lange geweint hatte.

Seraphiona hat einen schönen Brunnen um die Quelle herum gebaut und mit einer geschickten Anordnung Bereiche geschaffen, in denen sich das Salz ablagern und auskristallisieren konnte.

Es wird heute als das ‚Tempelsalz des Crossos‘ verkauft oder als ‚Die steinernen Tränen Huglis‘.

Soweit die Legende meines Führers durch den Großtempel, Elchisedes.

Als ich vor den kunstvoll in die umgestürzten Säulen und Mauern eingehauenen Treppchen, Sitzbänke und Tischchen im Nordbereich komme, erkenne auch ich die Schönheit, die aus der Zerstörung entstanden ist. Wundervolle Ornamente ergänzten die ursprünglich in den Säulen angelegten Verzierungen.

Es versteht sich von selbst, dass nur der Adel und die Priesterschaft in dem zerstörten Bereich Platz nehmen dürfen. Und wundersamerweise hat man von allen diesen Plätzen, die auf so chaotische, brachiale Weise entstanden sind, den besten Ausblick auf den Hauptaltar und die riesige Statue von Crossos, die hinter dem Altar aufragt.